Freitag, 26. Juni 2015

Das unmögliche Alkoholverbot

Der Stadtrat von Görlitz hat gestern eine Änderung der Polizeiverordnung der Stadt Görlitz beschlossen, wonach nun ein örtlich und zeitlich begrenztes Alkoholverbot in Görlitz gilt. Bevor ich zu meiner ganz persönlichen Bewertung des Beschlusses komme, hier erstmal die Fakten, damit Ihr Euch nicht versehentlich ordnungswidrig verhaltet.


Die Fakten 


Von heute an dürfen an vier ausgewiesenen Plätzen in Görlitz von Montag bis Freitag zwischen 07:00 und 18:00 Uhr keine alkoholischen Getränke konsumiert oder mit sich geführt werden, wenn sie denn zum Konsum innerhalb des Geltungsbereich des Verbots gedacht sind. Das Verbot tritt am 25.06.2016 automatisch wieder außer Kraft.
Örtlich begrenzt gilt das Verbot:
  • auf dem Marienplatz einschließlich des Zugangs zum Augustum-Annen-Gymnasium, jedoch ohne die Gehwege vor der Deutschen Bank, dem Naturkundemusem, der Volksbank, dem Görlitzer Fass (das ist schon fast lustig), dem Goldenden Strauß und dem Jugendstilkaufhaus,
  • auf dem Elisabethplatz zwischen Joliot-Curie-Straße und Bismarckstraße/Klosterstraße, jedoch nicht zwischen Bismarckstraße/Klosterstraße und Marienplatz und ebenfalls nicht auf den Gehwegen der umliegenden Wohn- und Geschäftshäuser,
  • auf dem Wilhelmsplatz, jedoch nicht auf dem unbepflanzten Bereich des westlichen Wilhemsplatzes, nicht auf den Gehwegen der umliegenden Wohn- und Geschäftshäuser und nicht im Zugangsbereich des Joliot-Curie-Gymnasiums,
  • auf dem Postplatz innerhalb der neu gestalteten Parkfläche, jedoch nicht auf den Gehwegen der umliegenden Wohn- und Geschäftshäuser und
  • auf dem Demianiplatz / Platz des 17. Juni einschließlich der Kaisertrutz, jedoch nicht auf der Theaterzufahrt nordöstlich des Theaters, nicht auf den Gehwegen der umliegenden Wohn- und Geschäftshäuser und nicht an der Bushaltestelle an der südwestlichen Seite des Demianiplatzes.
Der Beschluss verweist weiterhin auf das Sächsische Polizeigesetz (SächsPolG) und das Ordnungswidrigkeitengesetz (OWiG), die jeweils besagen, dass Ordnungswidrigkeiten mit einer Geldbuße von mindestens 5,00 EUR und höchstens 1000,00 EUR geahndet werden können. Bei fahrlässiger Zuwiderhandlung sind es maximal 500,00 EUR.

Die Beschlussvorlage enthält den Antragstext samt Vortrag (Begründung) und als Anlagen den Entwurf zur Alkoholverbotsverordnung samt Flurkarten, in denen die betroffenen Flächen ausgewiesen sind, einen Auszug aus dem SächsPolG (§9a) und eine Kriminalstatistik, die Straftaten der vergangenen Jahre in den von der Regelung betroffenen Gebieten ausweisen. Weiterhin wurde als Tischvorlage ergänzend eine Stellungnahme des Justiziariats der Stadt Görlitz hinzugefügt.

Eine Begründung ist faktisch nicht vorhanden

Ich zitiere mal aus dem Vortrag:
„Mit der Änderung des Sächsischen Polizeigesetzes im Jahr 2011 wurde eine Ermächtigungsgrundlage zum Erlass von gemeindlichen Polizeiverordnungen für örtlich und zeitlich begrenzte Alkoholverbote auf bestimmten öffentlichen Flächen geschaffen. Nur bei Vorliegen alkoholbedingter Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit oder das Eigentum kann von dieser Norm Gebrauch gemacht werden. Aus der Anlage ist die Kriminalstatistik für die vorgesehenen Bereiche Marien-/Demianiplatz, Elisabethpatz und Wilhelmsplatz ersichtlich.“
Schon diese Argumentation erweist sich, gerade mit einem Blick in die zitierte Kriminalstatistik, als bestenfalls dünn. Zur Verdeutlichung dessen hier auch die angesprochene Statistik (ich habe sie in Excel nachgemalt, weil ich in meiner Vorlage ziemlich derbe rum geschrieben habe):




Die Statistik hat schon methodisch so einige Schwächen. So ist zum einen nicht klar, ob es sich bei den Zahlen um erfasste Delikte oder wirkliche Urteile handelt. Um eine Straftat handelt es sich aber nur, wenn der Täter oder die Täterin dafür verurteilt wird. Alles andere ist nur ein Verdacht. Was hier erfasst wurde, wissen wir nicht, konnte gestern in der Sitzung auch nicht beantwortet werden.
Dann der Passus „kriminalistische Erfahrung“. „Kriminalistische Erfahrung“ hat dazu geführt, dass die NSU-Morde jahrelang als „Milieutaten“ abgestempelt wurden. Andere Fälle „kriminalistischer Erfahrung“, die zu eklatanten kriminalistischen Fehleinschätzungen wurden, gibt es zuhauf. Man muss nicht lange danach suchen. In diesem Falle sagt die „kriminalistische Erfahrung“, dass bei den vorliegenden Straftaten „Alkoholkonsum häufig eine Rolle spielt“. Diese Aussage kann viel bedeuten. Sie kann bedeuten, dass Straftaten unter Alkoholeinfluss begangen wurden oder dass sie alkoholbedingt waren. Darin besteht aber ein wesentlicher Unterschied. Nur weil ich Auto fahre, nachdem ich ein Glas Wein getrunken habe (also unter Alkoholeinfluss), heißt das nicht, dass ich nicht Autofahre, wenn ich nüchtern bin (das wäre alkoholbedingt). Die Formulierung „spielt eine Rolle“ kann beides umfassen. Oder etwas ganz anderes. Auch das konnte in der gestrigen Sitzung nicht beantwortet werden.
Sehen wir uns darüber hinaus einmal die Zahlen an. Für den Bereich Marien-/Demianiplatz sind die Steigerungen in den Einzelkategorien von 2012 auf 2013 sehr wahrscheinlich damit begründet, dass (siehe Anmerkungen) der Demianiplatz erst ab 2013 erfasst wurde. Weiterhin wurden Sachbeschädigungen (ebenfalls in den Anmerkungen) erst 2014 erfasst, vorher allerdings nicht. Rechnen wir also in 2014 die Sachbeschädigungen heraus, um vergleichbare Zahlen zu erhalten, dann sieht man, dass es keine Steigerung der Kriminalitätsrate anhand der vorliegenden Zahlen tatsächlich nachweisbar ist.
  • Marien-/Demianiplatz: 2012 waren es 21 Fälle insgesamt, allerdings ohne Erfassung des großen Demianiplatz. Im Jahr 2013 waren es 30 Fälle (ohne die da noch nicht erfassten Sachbeschädigungen). Im Jahr 2014 waren es ohne Sachbeschädigungen auch 30 Fälle. Folglich keine Steigerung.
  • Elisabethstraße: 17 Fälle in 2012 und 2013 und (wiederum ohne die Sachbeschädigungen) 15 Fälle in 2014. Hier ein leichter Rückgang (der aber statistisch nicht relevant sein dürfte).
  • Wilhelmsplatz: 19 Fälle in 2012 und 2013 und lediglich 7 Fälle in 2014 (wiederum ohne die in den Jahren zuvor auch nicht erfassten Sachbeschädigungen). Hier ist ein klarer Rückgang zu verzeichnen.
An der Interpretation der Tabelle scheiterten in der gestrigen Stadtratssitzung allerdings einige. So auch der Landtagsabgeordnete Octavian Ursu, der trotz mehrfacher Hinweise immer wieder die Position vertrat, dass doch „45 mehr als 30“ seien und die Zahlen in der Summe doch ganz klar „gestiegen“ wären. Ist ja auch klar: wenn ich im Obstregal nun nicht nur die Äpfel und Birnen zähle, sondern auch die Kiwis dazu nehme, wird es gefühlt mehr Obst (unabhängig davon, ob die Kiwis nicht auch vorher schon dort gewesen sind). Das macht die Aussage steigender Kriminalität auf diesen Plätzen aber nicht valider. Im Gegenteil.
Die Zahlen sagen auch nicht aus, ob eventuell alkoholbedingte Straftaten tatsächlich aufgrund von Alkohol begangen wurden, der dort auch konsumiert wurde. Man kann auch woanders trinken und dann Menschen belästigen, die durch diese Verordnung geschützt werden sollen.

Geltendes Recht ist vorhanden, es muss nur angewandt werden

Im Vortrag wird ausgeführt, dass Alkoholverbote nur bei Vorliegen alkoholbedingter Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit oder das Eigentum ausgesprochen werden können. Das mit der Alkoholbedingtheit hatten wir ja schon. Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit oder das Eigentum sind aber auch jetzt schon strafrechtlich relevant und müssen auch ohne Anzeige durch einen Betroffenen durch Sicherheitsbehörden verfolgt werden. Die Nummer mit den Straftaten gegen Leib, Leben und Eigentum ist also schon durch bereits geltendes Recht abgedeckt, muss also nicht neu geregelt werden. Das führt mich auch zu einer weiteren Rechtsnorm, die bereits gültig ist: die Polizeiverordnung der Stadt Görlitz. Die besagt nämlich auch jetzt schon, dass bestimmtes unerwünschtes Verhalten (so auch Belästigungen durch aufdringliches oder aggressives Verhalten, beispielsweise nach Genuss von Alkohol; …) verboten ist. Diese Verordnung besteht und müsste nur konsequent durchgesetzt werden.
Der Oberbürgermeister argumentiert, dass er mit einem Alkoholverbot Menschen, die sich unerwünscht verhalten, von den betroffenen Plätzen fernhält und damit davon abhält, sich ordnungswidrig zu verhalten. Meinem Eindruck nach übersieht er aber dabei, dass er diese Menschen nun schon viel eher in ordnungswidriges Verhalten zwängt (allein durch Präsenz, aktives Handeln ist nun nicht mehr nötig).

Wenn Biertrinken zum zivilen Ungehorsam wird

Ich sprach davon, dass als Tischvorlage eine Einschätzung des Justiziariats der Stadt Görlitz ausgegeben wurde. Deren Kernaussagen sind Folgende (Zitat):
  1. Ein Stadtratsbeschluss über die hier gegenständliche Polizeiverordnung wäre nach Auffassung des Justiziariats von §9a SächsPolG nicht gedeckt.
  2. Fraglich ist aber, ob diese spezialgesetzliche Rechtsgrundlage zum Erlass kommunaler Alkoholverbote nach §9a SächsPolG nicht zu eng gefasst ist.
Heißt zusammengefasst: Unser Beschluss ist erkennbar rechtswidrig, aber das Gesetz, gegen das wir verstoßen, gefällt uns nicht. Nunja. Ein Gesetz muss nicht gefallen. Und es gibt nicht umsonst Wege, Gesetze zu ändern. Solange ein Gesetz nicht geändert wurde, ist es aber genau das: ein Gesetz. Ein Gesetz, gegen das die Stadt Görlitz nach Einschätzung ihres eigenen Justiziariats verstößt. Wissentlich. Nicht nur, dass das aus Perspektive der Kommunalaufsicht fast dadaistische Züge annimmt, finde ich es schon ein wenig vermessen, als Stadtrat eine solche Vorlage zur Abstimmung vorgelegt zu bekommen. Man kann es aber auch positiv sehen: Biertrinken wird nun zeitweilig zu einer Form zivilen Ungehorsams.

Sicherheitsesoterik und die Freiheitsrechte

Soviel zu den argumentativen Defiziten der Vorlage. Zusammengefasst kann ich für mich nur feststellen, dass die Vorlage schlichtweg unbegründet ist. Sie legt in keiner Weise dar, dass das geforderte Instrument dazu geeignet ist, das angestrebte Ziel zu erreichen. Natürlich wurde in der Debatte (und natürlich von der CDU) das Argument der Erhöhung der Sicherheit in der Stadt angeführt. Nur konnte Octavian Ursu (der Musiker) mir (der Sicherheitsingenieurin) nicht im Ansatz erklären, wie dieser Zugewinn an Sicherheit zustande kommen soll (wir erinnern uns: die vorgelegte Statistik ist als Datengrundlage für eine solche Interpretation absolut nicht geeignet). Nur wenn es eine Korrelation zwischen Straftätern und Alkoholkonsum gibt, lässt sich durch ein Verbot von Alkoholkonsum eine statistisch nachweisbare Reduzierung von Straftaten herbeiführen. Das also als Argumentationsgrundlage annehmen, stempelt automatisch jeden Alkoholkonsumenten zum Straftäter. Ist das so? Wird jeder, der Alkohol konsumiert, automatisch straffällig? Im Umkehrschluss: Werden Menschen nicht straffällig, wenn sie keinen Alkohol konsumieren? Das ist argumentative Esoterik.
In einem Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg aus dem Jahr 2009 heißt es in einem ähnlich gelagerten Fall (Alkoholverbot zur Verbrechensprävention in Freiburg): Eine selbst geringfügige Einschränkung von Freiheitsrechten durch eine Verordnung sei nur erlaubt, „wenn typischerweise von jedem Normadressaten auch eine Gefahr ausgeht.“ Aber nicht jeder, der trinkt, ist automatisch gewaltbereit.

Gastronomie?

Ich bin jetzt soweit, dass ich in meiner Argumentation an einen Punkt stoße, an dem ich selbst verwirrt bin. Laut der Diskussion im Stadtrat und Aussagen des Oberbürgermeisters mir gegenüber im Vorlauf der Sitzung sind Gastronomieeinrichtungen von dem Alkoholverbot ausgenommen. Explizit genannt sind sie in der Verordnung nicht. Die Verordnung gibt es aber her, dass Ausnahmen zugelassen werden. Sollte das der Fall sein, was der Tenor der Debatte am gestrigen Abend war, stellt das eine Ungleichbehandlung nach Einkommen dar. Diejenigen, die sich den Alkoholkonsum in den Ausschankbereich der ansässigen Gastronomiebetriebe leisten können, dürfen weiter saufen, obwohl sie doch, der Linie der Argumentation der Stadtverwaltung folgend, damit zu Gefährdern würden. Nur diejenigen, die das Geld dafür nicht haben (oder nicht ausgeben wollen), werden sanktioniert.

Die Freiheit des Einzelnen

Ein weiteres Argument in der Reihe der „gefühlten Wahrheiten“ (Phrasen wie „die Mehrheit“, „die Masse“ und „die Leute“ wurden gestern sehr oft bemüht, freilich ohne Belege) sind Aussagen, dass sich viele Bürgerinnen und Bürger allein durch die Anwesenheit alkoholkonsumierender Menschen gestört fühlen. Ich möchte hier nicht in Zweifel ziehen, dass es Menschen gibt, die sich daran stören. Ob das viele sind, sei dahin gestellt. Und stören allein ist keine Rechtfertigung für ein Verbot. Herr Neumann-Nochten hat gestern ein sehr schönes Argument gebracht, das sinngemäß so lautete: „Wenn wir anfangen, Alkoholkonsum in der Öffentlichkeit zu verbieten, weil es das Auge beleidigt, was finden wir dann als nächstes, das das Auge beleidigt und deshalb verboten werden soll.“
Alkohol in der Öffentlichkeit zu trinken ist das Recht eines jeden Menschen. Genauso wie eine ganze Menge anderer Sachen. Dieses Recht einzuschränken bedarf einer guten, einer wirklich guten Begründung. Diese Begründung kann nur in einer belegbaren Einschränkung schutzwürdiger Interessen anderer liegen. Ungestörtheit im öffentlichen Raum ist aber kein schutzwürdiges Interesse. Die Unversehrtheit von Leib und Leben schon. Die wird aber nicht zwangsläufig und alleinig bedroht durch den Alkoholkonsum anderer. Natürlich kann Alkohol zu Unfällen und Verbrechen führen. Aber Unfälle und Verbrechen geschehen auch ohne Alkohol. Und wenn ich Alkohol trinke, kann ich auch ganz einfach auf einer Bank sitzen, mich am Leben erfreuen und danach freundlich grüßend aufstehen und meiner Wege gehen. Ehrlich


Nachtrag: Die fragliche Beschlussvorlage trägt die Nummer STR/135/14-19. Sie wurde nur von OB Deinege, jedoch weder vom Beigeordneten Dr. Wieler noch vom Amtsleiter unterzeichnet.

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